Satire, Alltägliches und andere AbsurditätenVöllig talentfreiRainer war als kleiner Junge hübsch anzusehen. Er war höflich, und er schien auch nicht dumm zu sein. Aber er sah selten glücklich aus, denn er hatte keine Talente. Das hat er sich nicht selbst so ausgesucht, das liegt einfach in seinen Genen. Wahrscheinlich hat er nicht mal alle sonst üblichen Gene. Schon mit drei Jahren war er offensichtlich nicht in der Lage, vernünftig zu malen. Damals hatte er versucht, seine Eltern zu malen. Bei seiner Mutter ist ihm das in der üblichen Strichmännchentechnik einigermaßen gelungen. Mit Ausnahme des fehlenden Bauches. Das hatte er jedoch schon bei Bildern von anderen Kindern gesehen. Die konnten das auch nicht und sind heute teilweise bekannte Maler. Womit er arge Probleme hatte, das war sein Vater. Rainer hat das Gesicht seines Vaters nie malen können. Stattdessen enthielt das Bild einen gewaltigen Bauch auf Beinen, sonst nichts. Gut, so als Kind, das alles von unten betrachtet, konnte er wahrscheinlich am wuchtigen Bauch seines Vaters nicht wirklich vorbei sehen. Aber er hätte sich ja den Rest denken können. Tat er aber nicht. Später beim Malen mit Wasserfarben wurde seine Unfähigkeit noch deutlicher sichtbar. Egal welche Farben er mischte, am liebsten alle, es entstand immer ein dreckiges Braun. Da er sowohl den Hintergrund als auch die Motive im Vordergrund komplett einfärbte waren zwar keine Fehler zu erkennen, allerdings sonst ebenfalls nichts. Nur eben dieses dreckige Braun. Das brachte ihm üble Noten und seinen Eltern ein Gespräch mit dem Kunstlehrer ein. Dieser befragte sie direkt nach ihrer politischen Einstellung und indirekt nach ihrer psychischen Verfassung. Solch ein Gespräch wollten die Eltern auf keinen Fall noch ein Mal haben. Rainers Vater empfahl seinem Sohn schließlich, nur noch Rot mit Gelb zu mischen. Das Ergebnis entsprach ungefähr der Farbe der Hose des Kunstlehrers, die dieser immer trug. Rainer hatte in der Folgezeit weniger schlechte Noten, und seine Eltern mussten nicht mehr anrücken. Auf den orange leuchtenden Bildern war allerdings immer noch nichts zu erkennen. Da sein Kunstlehrer gleichzeitig Musiklehrer war, empfahl er Rainer, in seiner Freizeit im Chor mit zu singen. Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass Rainer beim Gesang endlich Talent zeigen konnte. Und Rainer sang mit. Es war eine schreckliche Zeit, in der er all seine Privilegien in der Schule verlor. Max, der mit ihm immer das Pausenbrot tauschte – er aß lieber seine belegten Brote und sein Obst, Rainer seine Schokoladenriegel und seine Bonbons – würdigte ihn keines Blickes mehr. Max war Solist im Chor, und Rainer schaffte es regelmäßig, seinen Einsatz mitten in die Solos von Max zu legen. Dies führte dazu, dass der Chor jedes Lied mindestens zehn Mal so lange, wie zuvor ohne Rainers Zutun, proben musste. Was ihm den ganzen Chor zu Feinden machte. Mitunter vielleicht auch wegen der falschen Töne, die die anderen Chormitglieder wiederholt aus dem Konzept brachten. Er durfte in den Pausen nicht mehr die Stummel der Zigaretten von Frank, der schon ein paar Jahre älter war, fertig rauchen. Anna, die rauchende Jungs cool fand, wollte mit ihm nun nicht mehr hinter dem Vogelbeerbusch knutschen. Und Klaus-Dieter, den alle Brillenschlange nannten, half ihm nicht mehr bei den Mathehausaufgaben, was eine Katastrophe war. Mathe war für Rainer größtenteils ziemlich unverständlich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass zum Beispiel neun Melonen, unter drei Menschen verteilt, drei für jeden ergeben sollten. Die Möglichkeit, dass sich einer fünf und die anderen je zwei krallen würden, schien ihm wahrscheinlicher. Oder dass zwei leer ausgingen und einer mit fetter Beute abzog. Die Beispiele für die Addition waren ebenfalls nicht einleuchtend. Wenn ein Kind in den Wald geht und an einer Stelle siebzig und an einer anderen Stelle hundert Blaubeeren sammelt, kommt es doch nicht mit hundertsiebzig Blaubeeren im Körbchen zurück. Was ist mit denen, die es beim Sammeln und auf dem Heimweg nicht ins Körbchen sondern in den Mund befördert hat? Klar, dass nun die ohnehin nie guten Noten noch schlechter wurden. Auch die in Deutsch. Wegen Dietmar. Dietmar, ebenfalls im Chor, hatte Rainer bei Aufsätzen immer kleine Zettelchen mit Textideen zugeschoben. Im Gegenzug hatte Rainer dafür gesorgt, dass der Vorhang im Zimmer seiner älteren Schwester Elisabeth abends klemmte und sich deshalb nicht schließen ließ. So konnte Dietmar sie vor dem Schlafen Gehen beim Ausziehen beobachten. Was er nun nicht mehr konnte. Denn die inzwischen verlängerten Chorproben raubten ihm die Zeit für sein Hobby. Nun musste Rainer seine Aufsätze selbst schreiben. Die Lehrerin bewertete diese nicht nur schlecht. Sie verwendete sie zum Teil zur Diskussion über Thema-Verfehlung in der Klasse. Wenn zum Beispiel ein Aufsatz über den letzten Urlaub zu schreiben war, verstand Rainer es, keinen Moment des Urlaubs zu erwähnen. Er schrieb über die Planung der Urlaubszeit und des Urlaubsortes, die bei seinen Eltern regelmäßig zu Streit führte. Er schrieb auch über die Diskussionen zum Urlaubsgepäck und über die Wünsche seiner Schwester Elisabeth, die nie berücksichtigt wurden. Wie beim letzten Urlaub, als Rainers Eltern trotz ihrer Proteste ein englisches Rentnerparadies auf Menorca gebucht hatten. Das hatte Elisabeth zum Anlass genommen, zuerst drei Tage die Nahrungsaufnahme einzustellen. Danach, als sie ihr Wunschgewicht hatte, hatte sie jegliche Mithilfe im Haushalt verweigert. Ein Urlaub war nun bitter notwendig gewesen, um die angespannte Stimmung in der Familie zu entspannen. Rainer schrieb auch über die Folgen des Urlaubs. Über obligatorische Arztbesuche seiner Mutter nach dem Urlaub. Sie hatte fürchterliche Angst, sich in fremden Betten Krätze oder mindestens Läuse eingefangen zu haben. Um sich jedes Mal vom Arzt das Gleiche sagen zu lassen. Nämlich, dass beim Ablösen der Haut vom Körper und der anschließenden Regeneration Hautjucken auftreten kann. Und dass dies durch den üblichen Sonnenbrand ausgelöst wurde. Und Rainer schrieb über das schlechte Essen aus dem Discounter. Das hatte sein Vater nach den Urlauben kistenweise angeschleppt, da die Urlaube grundsätzlich teurer wurden als geplant. Nach einem dieser Urlaube trat Rainer aus dem Chor aus, um wieder Freunde besuchen zu können. Nicht zuletzt um von deren Eltern etwas Vernünftiges zu Essen zu bekommen. Da Rainers Leistungen bis zum Choraustritt in allen Fächern weniger als ausreichend bewertet wurden, blieb ihm nichts Anderes, als sich weiter durch die Schule zu mogeln. Er nahm fortan nie mehr freiwillig an kreativen AGs teil und konnte somit ungehindert Dienstleistungen und Naturalien gegen Spickzettel und Hausaufgaben tauschen. Das ermöglichte ihm, die Schule wenigstens mittelmäßig abschließen. Seine anschließende Ausbildung zum Automechaniker brach er auf Anraten seines Ausbilders nach zwei Jahren ab. Einige Kunden der Werkstatt mussten im Rundfunk aufgerufen werden, ihre frisch reparierten Fahrzeuge sofort stillzulegen. Schuld war jeweils Rainer, der vergessen hatte notwendige Teile wie Bremsklötze einzubauen oder Radschrauben ordnungsgemäß anzuziehen. Nun könnte man annehmen, dass Rainer heute einer der armen Menschen ist, die von den Sozialleistungen des Staates abhängig sind. Doch so sollte es nicht kommen. Schon während der Schulzeit und besonders während seiner Ausbildung engagierte sich Rainer intensiv im Ortsverein einer politischen Partei. Er wurde bald zu deren Vorsitzenden und später zu einem ihrer Vertreter im Bundestag gewählt. Rainer lebt nun glücklich in Berlin und zeigt sich gerne mit seiner bildhübschen Schwester, die mit seinem Ghostwriter liiert ist und ebenfalls in Berlin lebt, in der Öffentlichkeit. Rainer sieht seine Eltern nicht mehr oft. Aber er schickt jedes Jahr im Sommer Pakete mit Gaumenfreuden aus dem Feinkostladen und Großpackungen Sonnencreme an sie. |
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